
Die Auftragsbücher sind voll, die Arbeitslosigkeit sinkt auf das Niveau von 1990. Aus einem Mangel an Arbeit wird Arbeitskräfte-Mangel.
Ob sich die so genannten Experten noch erinnern an ihre Vorhersagen? Dass die Zahl der Arbeitslosen ganz unzweifelhaft die fünf Millionen überschreiten wird. Dass den Firmen auf Dauer selbst die Kurzarbeit zu teuer und eine Entlassungswelle nicht zu verhindern ist und die Krise einen weiteren Rationalisierungsschub erzwingt.
Und was ist passiert? Die Unternehmen haben zwar in weiser Voraussicht mehr Mitarbeiter als nötig beschäftigt und so ihre Lohnstückkosten erhöht. Aber dieser Nachteil hat ihre Wettbewerbsfähigkeit kaum beeinträchtigt. Der Export brummt wie zu besten Zeiten, viele Betriebe laufen wieder unter voller Last und suchen Hände ringend neues Personal.
Innerhalb weniger Wochen hat sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt völlig verschoben. Die Zahl der offenen Stellen steigt, sogar der traurig zementierte Bestand der Langzeitarbeitslosen profitiert von der Nachfrage und wird langsam abgebaut. Gegen soziale Härten hilft noch immer Arbeit am besten.
Manche Regionen melden Vollbeschäftigung. Dabei stehen uns die Folgen des demografischen Wandels erst bevor. Was bei den Ausbildungsplätzen schon zu spüren ist, wird sich sehr schnell auch auf die Arbeitsstellen auswirken. Es gehen halt viel mehr Menschen in Rente als ins Erwerbsleben nachrücken. Auch die Zuwanderung qualifizierter (!) Fachkräfte kann diese Lücke nicht schließen.
Der Arbeitsmarkt wird aus anderen Quellen schöpfen müssen: Mehr Frauen und mehr Ältere beschäftigen (deren Anteil bereits steigt, was der Diskussion um die Rente mit 67 eigentlich die Grundlage nehmen sollte). Und es werden Tabus zu brechen sein: Wochenarbeitszeit verlängern. Weniger Urlaub machen. Wenigstens sind vorerst die Zeiten vorbei, in denen Mehrarbeit kostenneutral zu leisten ist. Denn auch der Arbeitsmarkt funktioniert nach Angebot und Nachfrage – und momentan schrumpft das Angebot an gut ausgebildeten Mitarbeitern. Das treibt die Löhne und Gehälter. Aber nicht überall.
Denn das unerhoffte, unverhofft starke Wachstum findet nicht in allen Branchen statt. Und wo es passiert, nicht überall im selben Maß. Und es wirkt auch nicht überall gleich stark auf den Arbeitsmarkt. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat ermittelt, wer in den nächsten zwölf Monaten besonders intensiv neue Kollegen sucht: Spitzenreiter ist die Zeitarbeit, es folgen Forschung und Entwicklung, Informationstechnik, Elektro, Gummi/Kunststoff sowie Gesundheit und soziale Dienste, Werbung und Marktforschung. Die Positivliste endet bei den Autoherstellern. Sogar Gastgewerbe und Handel reihen sich in die Gruppe der einstellenden Branchen ein – in der berechtigten Hoffnung, dass die Deutschen in den kommenden Monaten mehr konsumieren.
Leider gibt es innerhalb dieser Branchen gewaltige Unterschiede, von Region zu Region, von Firma zu Firma. Das macht allgemeine Lohnerhöhungen so problematisch. Der längst angekratzte Flächentarif mit seiner Forderung „Mehr Geld für alle“ hat endgültig ausgedient. Wer von den Arbeitnehmern mehr Flexibilität fordert, muss auch Flexibilität in den Systemen ermöglichen. Ob das gerecht ist? Diese Frage haben Chefs und Belegschaften hundertfach beantwortet. Die Erfahrung der Krisenjahre lehrt: Wo Fachkräfte knapp sind, wird auch ohne tariflichen Zwang besser bezahlt. Und wo Arbeit fehlt, verzichten die Kollegen lieber auf Geld als auf den Job. Diese auch von den Gewerkschaften mitorganisierte Flexibilität, die sich an betrieblichen Erfordernissen und Möglichkeiten orientiert, hat die deutsche Wirtschaft krisenfest gemacht. Wir dürfen sie nicht aufgeben. Denn nur Beweglichkeit wird uns durch die nächste Krise bringen, in der den Deutschen nicht die Arbeit auszugehen droht, sondern die Arbeitskräfte.
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